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Reichtum statt Kapital. Anupama Kundoo

Blick in ein Haus aus Zieglen, in der Mitte ein Tisch sichtbar

Die Grenzen zwischen Innen und Außen, privat und öffentlich sind fließend. Anupama Kundoo: Wall House, Auroville, 2000
© Foto: Javier Callejas

Was, wenn Architektur kein Instrument des Kapitals wäre? Was, wenn genug für alle da ist? Wie kann man es überhaupt wagen, so etwas laut auszusprechen? Die Architektur der indischen Architektin Anupama Kundoo zeigt, dass ein anderes Bauen tatsächlich möglich ist. Mit lokalen Ressourcen entwirft Kundoo Gebäude von außerordentlicher Schönheit, die für die Bedürfnisse von Mensch und Planet Sorge tragen.

Weltweit werden von der Bauindustrie natürliche Ressourcen und Arbeitskräfte ausgebeutet. Gleichzeitig können sich viele Menschen ihre Wohnungen, die zu Anlageprodukten geworden sind, nicht mehr leisten. Wie konnte das Bauen so zerstörerisch für Mensch und Natur werden und was können Architekt*innen dem entgegensetzen? Das Werk von Anupama Kundoo steht für die beiden Kuratorinnen Angelika Fitz und Elke Krasny exemplarisch für eine andere Art von Architektur: eine ökologische, materielle und räumliche Verkörperung von Fülle, die sich dem Imperativ des „Nie genug“ widersetzt – oder wie Anupama Kundoo sagt: „Welchen Sinn hat es, Dinge effizient zu tun, die gar nicht getan werden müssen?“

Anupama Kundoo wurde 1967 in Pune geboren und wuchs in Mumbai auf, wo sie in den späten 1980er-Jahren Architektur studierte. 1989, als die globalisierte Urbanisierung in Indien das Kommando übernahm, entschied sich Kundoo gegen das Diktat „Form folgt Geld“. Sie zog in die experimentelle Stadt Auroville in Südindien, wo sie im Alter von 23 Jahren ihr Büro Anupama Kundoo Architects gründete. Sie lehrte an renommierten Universitäten in aller Welt, hat mehrmals auf der Architekturbiennale in Venedig ausgestellt und zahlreiche Preise erhalten. Sie unterhält derzeit Büros in Berlin, Mumbai und Puducherry, doch der größte Teil ihres architektonischen Schaffens findet sich in Auroville und Puducherry im südindischen Küstenstaat Tamil Nadu.

Reichtum liegt in Anupama Kundoos Projekten nicht in teuren Materialien und perfekten Industrieprodukten, sondern in der neuartigen Verwendung von Materialien und Techniken, die lokal im Überfluss vorhanden sind. Das gelingt ihr durch die Verbindung von High und Low Tech, die Weiterentwicklung von traditionellen Bautechniken, innovative Leichtbauweisen, natürliche Kühlung und regionale Materialkreisläufe. Kundoo widersetzt sich den engen Grenzen des Entweder-oder. Ihre architektonische Praxis ist zugleich technologisch und spirituell, modernistisch und ökologisch, traditionell und innovativ, sozial und schön.

Die Ausstellung greift auf das gesamte Werk der Architektin aus mehr als drei Jahrzehnten zurück und teilt die kuratorische Forschung in acht Dimensionen von Reichtum und Fülle: Wissen, Material, Lösungen, Ansprüche, Unterschiede, Großzügigkeit, Natur und Erholung. Die Ausstellungsgestaltung von Anupama Kundoo und ihrem Team folgt dem Grundriss ihres eigenen Hauses, dem legendären Wall House. Mit einer Vielzahl von Modellen, Materialproben und 1:1 Installationen ermöglicht die Ausstellung den Besucher*innen, Reichtum und Fülle in all ihren Dimensionen zu erfahren.

Acht Dimensionen von Reichtum und Fülle

Experimente wagen: Reich an Wissen
Die gebaute Umwelt ist das größte Gemeinschaftsunternehmen der menschlichen Geschichte. Während das Bauen lange von allen gemeinsam gemacht wurde, hat die modernistische Arbeitsteilung Planende, Ausführende und Nutzer*innen voneinander getrennt und zu einer Geringschätzung von „machenden“ Wissenssorten geführt. Anupama Kundoos architektonische Innovationen beruhen auf dem kreativen Umgang mit lokal verfügbaren Materialien und Technologien. Erde, Lehm, Stein und handwerkliches Können treffen auf experimentelle Prozesse. Das Wall House, das Wohnhaus der Architektin in Auroville, diente dabei als Versuchsraum zur Generierung innovativer Methoden, die später auf andere Projekte übertragen wurden.

Lokale Ökonomien: Reichtum an Materialien
Abbau, Produktion, Transport und Verarbeitung von Materialien haben in der globalisierten Bauindustrie zu einer Ausbeutung von Natur und Arbeitskräften geführt. Inwieweit sind lokale Ökonomien möglich, bei denen ortsspezifische Fähigkeiten gestärkt werden und der Profit bei den Menschen in der Region bleibt? Anupama Kundoos Interesse an Materialien begann aus ästhetischen und ökonomischen Überlegungen, entwickelte sich aber zu einer Kritik an kolonialen Strukturen. Indien sei kein „armes“ Land, das „Entwicklung“ brauche. Stattdessen erkennt und schätzt sie die Fülle lokal verfügbarer Baumaterialien und Bauweisen und arbeitet gezielt damit.

Normen und Standards hinterfragen: Eine Fülle an Lösungen
Die Normierung begann mit dem Kolonialismus und leitete den Prozess der Globalisierung ein, wodurch lokales architektonisches Wissen und indigene Bautechniken verdrängt wurden. Normen gewähren zwar Sicherheit, aber alle Regulative müssen mit Verallgemeinerungen arbeiten und wirken damit für einzelne Situationen überbordend. Kundoo nennt sie „Breitband-Antibiotikum“. Warum müssen zum Beispiel alle Ziegel die höchste Güteklasse haben, obwohl sie damit für viele Anwendungen überdimensioniert sind? „Ich denke, es ist dumm die Nutzerinnen und Handwerkerinnen zu ignorieren und stattdessen für die Baustoffindustrie und die Baubehörde zu entwerfen“, so Kundoo.

Experimentelle Stadt: Viele Ansprüche
Viele von Kundoos Bauten sind mit Auroville verbunden, wo in den 1930er-Jahren die Vision einer auf Einheit und Frieden gegründeten Stadt entstand. Der Anspruch, eine Stadt für die Einheit der Menschen zu bauen, ist hier keine Metapher, sondern ein gebautes architektonisches Experiment. 1968 offiziell gegründet, leben heute in Auroville etwa 3.300 Menschen aus 58 Nationen. Die Charta besagt, dass „Auroville niemandem im Besonderen gehört. Auroville gehört der Menschheit als Ganzes.“ Folglich gibt es keinen privaten Landbesitz. Sämtliche Grundbedürfnisse sollen durch Gemeinschaftsdienste erfüllt werden, zu denen alle mit ihrer Arbeit beitragen. Auroville ist ein experimenteller Realraum, dessen Ausformung von widersprüchlichen historischen Faktoren wie Kolonialismus, Moderne, integralem Yoga, westlichen antikapitalistischen Idealen, UNESCO-Unterstützung und internationaler Entwicklungshilfe mitgeprägt wurde.

Schönheit neu erfinden: Reich an Unterschieden
Die Architekturgeschichte wurde lange und wird zum Teil noch immer entlang von Epochen, Stilen und kulturellen Unterschieden geschrieben. Einer solchen Zuordnung entzieht sich die Architektur von Anupama Kundoo. Sie führt in ihrer Arbeit Elemente der Moderne, traditionelle Bauweisen und ortsspezifische Materialexperimente zusammen. Kundoo verarbeitet Prinzipien alter Tempel, traditioneller tamilischer Wohnhäuser, Laurie Bakers Low-Tech-Methoden und sie weist Bezüge zu Vorreitern wie Le Corbusier auf. Es wird ein Miteinander erzeugt, bei dem die Dinge sich verschränken und zugleich ihre Eigenständigkeit behalten, eine Schönheit, die sowohl subtil als auch kraftvoll, bescheiden und zugänglich ist – und sich von Spektakel oder Dominanz absetzt.

Instandhaltung und Sorgetragen: Über die Maßen großzügig
Jede Architektur bedarf ständiger Pflege und prägt wiederum selbst die Bedingungen für Reproduktionsarbeit. Instandhaltung und Pflege werden meist als unsichtbare und unbezahlte Arbeit beschrieben, als notwendig für die Befriedigung von Grundbedürfnissen, als langweilig, sich wiederholend und nicht als Praktiken, die reich an Wissen, Fähigkeiten und Bedeutung sind. Anupama Kundoo versteht „Instandhaltung als Teil des Lebensrituals“. Das Bewusstsein für Wartungsanforderungen und die Gestaltung des Sorgetragens sind Teil der Architektur. Anstelle der Ausbeutung von Care-Arbeit tritt Großzügigkeit.

Das Klima heilen: Reichtum der Natur
Architektur ist die gebaute Beziehung des Kapitals zur Natur und ist in der Moderne von der Idee der „Beherrschung von Natur“ dominiert. Mit Architektur das Klima zu heilen bedeutet, die Beziehung zur Natur anders zu gestalten. Dafür müssen wir lernen, dass Natur nicht umsonst ist, keine billige Ressource zur Gewinnmaximierung, sondern dass Natur Heilung braucht, um sich vom Kapitalismus zu erholen und den eigentlichen Reichtum der Natur wiederherzustellen. Kundoo versteht Architektur als Beitrag zur Klimareparatur, wobei Mensch-Natur-Beziehungen grundlegend neu gedacht werden müssen.

Architektur, die zur Ruhe kommen lässt: Reich an Erholung
Bei ihrem Besuch im Wall House verspürten die Kuratorinnen einen tiefen Eindruck von Erneuerung und Ruhe. Und sie bemerkten: Der Architektur fehlt ein differenzierter Wortschatz für beruhigende und regenerative Räume. Im Gegensatz zu vielen Architekturikonen, die Macht, Kapital und Spektakel repräsentieren, lädt Kundoos Architektur zum Innehalten, Auftanken und zum Verweilen im Moment. Die Ausstellungsgestaltung ermöglicht auch den Besucher*innen, die Architektur als Raum zum Innehalten und zur Ruhe Kommen zu erleben – Qualitäten, die in der architektonischen Debatte bislang oft übersehen wurden.

Projekte in der Ausstellung

Hut Petite Ferme, 1990, Auroville, Indien
Wall House, 2000, Auroville, Indien
Multipurpose Hall S.A.W.C.H.U., 2000, Auroville, Indien
Village Action Center, 2000, Auroville, Indien
Keystone Foundation, 2000, Kotagiri, Indien (fortlaufend)
Auroville Institute of Applied Technology, 2001, Auroville, Indien
Residence Spirit Sense, 2001, Auroville, Indien
Abri Transport Service, 2003, Auroville, Indien
Sangamam, 2003, Auroville, Indien
Creativity Co-Housing, 2003, Auroville, Indien
Town Hall Complex, 2005, Auroville, Indien
Mitra Youth Hostel, 2005, Auroville, Indien
Volontariat Homes for Homeless Children, 2008, Puducherry, Indien
Light Housing Prototype, 2013, Auroville, Indien
Full Fill Homes, 2015, Auroville, Indien
Easy-WC, 2015, Auroville, Indien
Shah Houses, 2016, Brahmangarh, Indien
Library Nandalal Sewa Samithi, 2018, Puducherry, Indien
Sharana Daycare Facility, 2019, Puducherry, Indien

Kuratorinnen: Angelika Fitz, Elke Krasny
Projektkoordination und kuratorische Assistenz: Agnes Wyskitensky
Ausstellungsgestaltung: Anupama Kundoo Architects
Ausstellungsgrafik: Alexander Ach Schuh

Publikation

Abundance Not Capital. The Lively Architecture of Anupama Kundoo
Hrsg. von Angelika Fitz, Elke Krasny und Architekturzentrum Wien
272 Seiten, € 38
MIT Press, 2025
ISBN: 9780262553124

In dieser Publikation stellen Angelika Fitz und Elke Krasny das Konzept der Fülle (Abundance) vor, um einen Paradigmenwechsel in der Architektur zu fordern. Anhand des außergewöhnlichen Werks der Architektin Anupama Kundoo zeigt das reich illustrierte Buch, dass eine nicht-extraktivistische und nicht-ausbeuterische Architektur zweifellos möglich ist. Fotografien und Texte aus der kuratorischen Feldforschung von Fitz und Krasny entwickeln gemeinsam mit Material aus dem Büro der Architektin einen neuartigen Rahmen für die Analyse von Architektur. Essays internationaler Autorinnen bearbeiten die Themen Architektur und Kapital, CO2-Kolonialismus, Arbeitsbedingungen in der Bauindustrie, modernistische Utopien in der Stadtplanung, Architekturen des Sorgetragens und geben Einblicke in indische Architekturdiskurse.

Mit Beiträgen von: Shumi Bose, Jordan H. Carver, Peggy Deamer, Madhavi Desai, Angelika Fitz, Rupali Gupte, Ranjit Hoskote, Elke Krasny, Charlotte Malterre-Barthes, Shannon Mattern, und Laurie Parsons.

Stimmen zum Buch

“Anupama Kundoo’s architecture is a testament to the harmonious blend of traditional craftsmanship and an innovative approach to sustainability. This new book brilliantly examines and explains the theoretical underpinnings of her work, as well as showcasing its achievements.“
NORMAN FOSTER, Founder and Executive Chairman, Foster + Partners
and President, Norman Foster Foundation

“Reading this inspiring volume about reparative architecture and the building of generous spaces will fire your imagination while it suffuses you with hope.”
ANNE KARPF, author of How Women Can Save the Planet

“This approach is so relevant and necessary for today’s world.”
MARTHA THORNE, urbanist and architectural consultant