Das Az W trauert um Margherita Spiluttini

16.10.1947–2.3.2023

Margherita Spiluttini
© Foto: Pez Hejduk

„Architektur erzählt uns etwas über die sozialen, wirtschaftlichen, religiösen und politischen Verhältnisse einer Gesellschaft. Sie kann sowohl Macht als auch Chaos repräsentieren; sie kann das Ergebnis einer sorgfältigen Planung sein oder zufällig und anonym entstanden sein. In jedem Fall ist sie Ausdruck von Menschlichkeit.“ (Margherita Spiluttini)

Über 4.000 Bauten in rund 120.000 Fotografien – diese beeindruckende Menge an zeitgenössischer Architektur dokumentierte Margherita Spiluttini ab 1980. Sie war dabei im Auftrag einer Reihe von bedeutenden Architekt*innen und Theoretiker*innen tätig und avancierte so zur Chronistin und Kanonmacherin österreichischer und internationaler Architektur. Ihre Kameralinse lenkte sie aber nicht nur auf Bauten von bekannten Architekt*innen, sie beschäftigte sich auch intensiv mit städtebaulichen Themen, urbanen Vernetzungen und anonymer Architektur, mit historischen Bauten und Kunst im öffentlichen Raum. Ganze Bilderessays widmete sie unter anderem Industriebauten, Stadtbildern, Landschaften, dem Donauraum, neuen Häusern etc. Viele dieser Fotoserien mündeten in hochgelobte Ausstellungen im In- und Ausland.

Margherita Spiluttini war in den letzten 35 Jahren die zentrale Figur der österreichischen Architekturfotografie. 1947 in Schwarzach im salzburgischen Pongau geboren, entwickelte sie von Anfang an eine präzise und eigenständige Bildsprache. Sie pflegte einen zutiefst reflektierten Umgang mit dem Medium Fotografie und der Fotografie in den Medien. Wiederholt leitete ihr Blick nachhaltige Wandlungsprozesse in der Rezeption ein, so etwa ihre Serie über die Nachkriegsarchitektur. Margherita Spiluttini begründete die fotografische Karriere vieler Bauten, die heute unter dem klingenden Namen „Mid-Century“ vermarktet werden. Dabei hat sie immer wieder betont, dass vieles von dem, was zum Erleben von Architektur beiträgt, auf einer Fotografie eigentlich fehlt: der dreidimensionale Raum, der nur durch Bewegung erfahrbar ist, Geräusche und Stille, Gerüche oder bewegte Luft, die haptische Wahrnehmung von Architektur und die Umgebung eines Bauwerks. Spiluttinis Bilder machen sich nicht wichtig. Sie erscheinen erfrischend lapidar, sind aber vielschichtig komponiert. Ihre besondere Leistung ist es, dass sie das Gebaute nicht werbewirksam isolieren, sondern bevorzugt im Kontext einer vom Alltag geprägten Umgebung zeigen.

In den österreichischen Alpen aufgewachsen, war ihr deren Schönheit ebenso vertraut wie die Gefahren und die schwierigen Bedingungen für Menschen, die in dieser Landschaft leben. Sie könnten hier nicht existieren, würden sie nicht in die Bergwelt eingreifen und sie entscheidend verändern. Der Ambivalenz aus Schönheit, Bedrohung, Bearbeitung und Zerstörung widmete sie sich fast zehn Jahre lang in großformatigen Fotografien (Ausstellung 2002: „Nach der Landschaft. Konstruktionen der Landschaft“).

Mit dem Architekturzentrum Wien verband Margherita Spiluttini eine langjährige Freundschaft und Kooperation. Höhepunkte waren die 2007 realisierte Ausstellung „Atlas Austria“ und die Herausgabe ihres Buches „räumlich“. 2015 gelangte ihr gesamtes Fotoarchiv an die Sammlung des Az W. Es ist eine einzigartige und unerschöpfliche Quelle für die visuelle Vermittlung von Architektur, was sich in nationalen wie internationalen Zeitschriften, Zeitungen und Büchern widerspiegelt.

Margherita Spiluttini gehörte zu den Vorreiterinnen in der Architekturfotografie, wo Frauen früher als Architektinnen ein Handlungsfeld in einer männlich geprägten Domäne fanden. Sie war unbestritten eine der bedeutendsten Architekturfotografinnen Europas. Ebenso aber war sie eine äußerst eindrucksvolle Persönlichkeit – jemand, der sich seinem Schicksal mit einem unbeugsamen Willen stellte, obwohl eine schwere Krankheit ihr das Fotografieren in den letzten Jahren unmöglich machte. Erst vor knapp zwei Monaten starb ihr langjähriger Lebensgefährte, Architekt Gunther Wawrik, nun ist ihm Margherita Spiluttini gefolgt. Es bleibt nicht nur das großartige Archiv ihrer jahrzehntelangen Arbeit, sondern auch die Erinnerung an ihre Klugheit, ihren Humor und ihre Nahbarkeit.

„Im Kopf des Betrachters entwickelt sich ein Bild. Mit Hilfe seiner Vorstellungskraft und Projektionen fügt der Betrachter hinzu, was fehlt, und glaubt, etwas Reales gesehen zu haben, er glaubt, dort gewesen zu sein und es gesehen zu haben.“ (Margherita Spiluttini)

Wir danken Margherita Spiluttini dafür, dass sie Fotografien geschaffen hat, die uns immer wieder neue Architekturreisen im Kopf ermöglichen.